Dienstag, 6. Januar 2015

That Ole Time Religion (renewed version)


Michael Walrond
Die Kirche von Pastor Mike habe ich wenige Tage vor Weihnachten in einem Artikel der NewYork Times gefunden. Seine Baptistengemeinde in Harlem ist offenbar eine der wenigen Kirchen, welche die alte Segregation der Rassen dadurch aufheben, dass sie weiße Besucher in traditionell schwarze Gottesdienste einladen. Umgekehrt ist es offenbar leichter und mittlerweile auch nicht mehr ungewöhnlich – viele Schwarze besuchen weiße Gottesdienste – aber das Modell der Kirche von Pastor Mike – Reverend Michael A. Walrond Jr. mit vollem Namen und Titel – in  Harlem ist etwas Besonderes. Es lebt von einem demografischen Umbruch in seinem Stadtviertel, der sich seit längerem vollzieht, und der ein einstmals heruntergekommenes Quartier wieder nach und nach attraktiv macht. Eine junge und wohlhabende Klientel zieht nach Harlem und nutzt den Vorteil, kurze Wege zu den Büros in Manhattan zu haben.
Die First Corinthian Baptist Church auf dem Adam Clayton Powell Jr. Boulevard, sechs Blocks nördlich des Central Park, ist in den letzten zehn Jahren von 300 Mitgliedern auf fast 9.000 angewachsen und hat Pastor Walrond zu einer auch politisch interessanten Figur in New York gemacht. Er hat eine solide Ausbildung an verschiedenen Universitäten genossen und kann in seinen Predigten durchaus auch einmal Zitate von Kierkegaard und Bonhoeffer einfließen lassen. Aber er kennt die Sprache und die Melodie der traditionellen schwarzen Gottesdienste und benutzt sie auf moderne Weise. Man kann sich im Internet ansehen, wie es ihm auf die alte Weise gelingt, seine Gemeinde immer wieder zu „Yeah!“ und „Amen!“ anzustacheln.
Das ist die gute alte, im Spiritual besungene Ole Time Religion mit Musik und Tanz, aber sie ist stark erneuert.

First Corinthians Baptist Church
Die schwarze Tradition hat –  so mein Eindruck bei der ersten Predigt – einen gewissen Preis. Je erregter die Gemeinde wird (und auf diese Erregung arbeitet der Pastor bewusst hin), desto kürzer werden die Abstände zwischen den Zwischenrufen, und der Pastor wird auf der Welle der Begeisterung von ganz alleine zu dem Punkt getragen, wo er nur noch kurze Sätze predigen kann Diese Sätze haben dann aber auch nur noch ganz einfache, verkürzte Wahrheiten.
Das geht dann etwa so: "Viele Leute wollen ein Leben das von einer Bergeshöhe zur anderen springt" - Yeah! Amen! - "aber die Wirklichkeit ist, dass es zwischen allen Bergen" - Amen! Zustimmung - "Täler gibt" - Beifall, Zustimmung . Über die Täler, die Krisen redet Pastor Walrond so, dass es in der Regel Wiederholungen alter Krisen sind, bei denen wir nur eins merken: dass wir daraus nichts gelernt haben. Dabei seien doch alle Krisen, sagt Pastor Mike, erstklassige Gelegenheiten, aus einem Platz in der ersten Reihe Gott, from a front-row seat,  bei der Arbeit zuzusehen. Das ist griffig, aber was Gott hier tut, wird in der Predigt nicht ganz deutlich. Deutlich wird dagegen die praktische Botschaft, dass wir unsere Fehler nicht dauernd wiederholen sollen.
Als Zuhörer aus dem fernen Deutschland bedauert man es im Rückblick auf die eigenen Krisen vielleicht, dass einem nie der Gedanke gekommen ist, man könne hier "aus einem Platz in der ersten Reihe" alles mit der nötigen Ruhe und Klarheit übersehen. Das Leben ist komplizierter, sagt mein europäisches Herz.
Am Ende seiner Predigt, die ohnehin schon recht lang geworden ist, macht er noch einen längeren Anhang und eine Ausflug in die Politik. Es stehen aktuell Anfang Dezember Demonstrationen bevor, die sich mit der polizeilichen Gewalt gegen Schwarze beschäftigen wollen. Ich lese später, dass sie dann auch stattgefunden haben – in Washington, so wie in des seligen Dr. Martin Luther Kings Zeiten.
Aber der mittlerweile auch tief in die Politik verwickelte Pastor Walrond propagiert eine andere Vorgehensweise. Man solle seine Ziele klar definieren, predigt er, und den Protest dort stattfinden lassen, wo es die Macht gibt, diese Ziele zu erreichen. Und das ist heute und in diesem konkreten Fall von Polizeigewalt am Sitz des Gouverneurs von New York, in Albany.
Diese Passage der Rede verstehe ich später besser, nachdem ich ein wenig darüber nachgelesen habe, was Michael Walrond mittlerweile politisch alles angestellt hat. Er hat versucht, bei den Midterm Elections im November 2014 einen Platz imKongress zu gewinnen und hat die Frechheit besessen, dafür in den Vorwahlen den 84-jährigen Amtsinhaber Charles Rangel, eine schwarze Ikone, seit 43 Jahren Kongressmitglied, herauszufordern. Das schwarze New Yorker Establishment hat ihm das offenbar sehr übel genommen, auch wenn er sich in den Vorwahlen als chancenlos erwies. Aber das hat ihn jetzt desto mehr herausfordert, von der Kanzel aus die Pläne dieses Establishments anzugreifen.
In der zweiten Predigt, die ich von ihm höre,

I Am Grateful For My Life Experiences | First Corinthian Baptist Church NYC

überrascht er mich nach einem erneut sehr politischen Anfang mit einem sehr persönlichen zweiten Teil, der ganz am Ende schließlich eine direkte Einladung zum Glauben enthält. Reverend Walrond predigt seinen schwarzen Glaubensgenossen, dass sie niemals vergessen sollen, wie das Leben war, als sie, die schwarzen African Americans noch vor der Türe stehen mussten. Jetzt sind sie an vielen Stellen akzeptiert, aber sie sollen die Zeit vorher nicht vergessen und sollen weiter für diejenigen einstehen, die mit der bloßen Akzeptanz nicht zufrieden sind, sondern weitergehen wollen, bis zur wirklichen Gleichheit.
Die Predigt ist eingebettet in die klassischen Worte aus 5. Mose Kapitel 6, in denen die jüdische Tradition begründet ist, den Kindern einzuschärfen, warum man hier ist: dass man aus der Sklaverei kommt und von Gott befreit wurde. Vor diesem Hintergrund ist es wichtig, die Ordnungen und Gebote Gottes zu halten. Mir kommt hier die Vergesslichkeit der modernen europäischen Kirchen in den Sinn, von denen ich bei Charles Taylor viel gelesen habe. Sie haben sich erfolgreich in den Prozess der Veränderung und Demokratisierung der Gesellschaft eingebracht, auch der Befreiung, haben aber am Ende den Eindruck erweckt, überflüssig zu sein.
Dieses Schicksal droht der Kirche von Pastor Mike nicht. Seine Predigt kommt immer wieder auf das what we have been through zurück, was wir durchgemacht haben, was unsere Geschichte ist. Die First Corinthians Baptist Church ist eine Kirche der Erinnerung.
Am Ende wechselt er den Tonfall, bittet die Gemeinde aufzustehen und lädt dann mit schlichten Worten zum Glauben ein. Wenn jemand hier ist, der Gott nicht kennt, der noch keine Beziehung zu Gott hat, der wird in eine Kirche eingeladen, die nicht perfekt ist, aber in der Menschen leben, die eine Liebe zu Gott haben und sich der Sache Gottes verpflichtet wissen und der Sache der Rechtschaffenheit und Gerechtigkeit (im englischen Wort righteousness klingt beides an).
Walrond erzählt die anrührende Geschichte einer alten afroamerikanischen Kirche, die mit den Geldern gebaut wurde, welche die damaligen Sklaven eigentlich für ihr eigenes Freikaufen aus der Sklaverei angespart hatten. Sie benutzten es für die Kirche, aber dann wurde die Kirche überraschend zu einem Fluchtweg in die Freiheit.

Das Königreich Gottes soll auch auf dieser Erde wachsen, das ist das Anliegen von Pastor Mikes Kirche, und deshalb sagt er es den Leuten sehr streng: sie sollen nicht in diese Kirche kommen, um unterhalten zu werden. Sie sollen kommen, „um ihren Marschbefehl zu erhalten“.
Er schließt mit dem Gebet, „Gott wir brauchen deine Kraft, wir brauchen deine Leitung“, und fügt leise hinzu: „wir haben deine Gegenwart“.  Diese Gegenwart ist es, in welche hinein Pastor Mike jetzt seine Gemeinde entlässt. Ein spürbar beglückender Moment.
Am Ende meiner Reise durch acht Kirchen bin ich in einer Kirche angekommen, in der ich gerne Mitglied wäre. Nur dass ich leider nicht in Harlem lebe…

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